aromatisierte Schwarztees Nr. 333

Nr 333: Earl Grey: ein Tee zwischen Prolet und Gentleman

Es ist Lust und Last, über den Tee namens Earl Grey zu schreiben. Last, weil schätzungsweise 99 Prozent aller öffentlich servierten Earl Greys grobe Lackl sind, nämlich Blend genannte Mischungen aus Billigtees, die im Schnellverfahren mit dem chemisch hergestellten Aroma der Bergamotte parfümiert werden. Solcherart fabrizierter Earl Grey duftet nicht, er riecht nur. Das ist die leider unvermeidliche Grausamkeit beim Thema Earl Grey, dieser grauen Eminenz unter den Schwarztees. Lust löst hingegen ein nach seriöser Methode hergestellter Earl Grey aus, was heißt: hochwertige Tees sind die Basis, angereichert mit dem Öl der echten Bergamotte (Citrus bergamia), deren einmaliges Aroma über geradezu herrische Intensität verfügt. Im Grunde gilt für einen Earl Grey das Saucenprinzip: je besser die Zutaten, desto feiner das Ergebnis - und umgekehrt!

Über gewisse Güte verfügt ein Earl Grey, der beispielsweise aus folgenden Teesorten komponiert wird: feinblumiger Darjeeling, malziger Assam, zitrusartiger Ceylon plus ein bißchen Grüntee nebst einem Hauch rauchiger Lapsong Souchong und etwas weicher chinesischer Schwarztee namens Keemun. Das Ergebnis einer solchen Mischung ist ein Tee von durchaus solider Qualität, vorausgesetzt natürlich, daß der Händler nicht in die Billigkiste gegriffen hat. Aber selbst dann, wenn gute Zutaten verwandt worden sind, ist ein solcher Earl Grey bestenfalls als nett zu beschreiben – ein Adjektiv, wie es gerne auch für Wein von achtbarer, doch keineswegs großer Klasse bemüht wird. Hingegen hat ein Earl Grey neben Charakter auch Noblesse, der beispielsweise exklusiv aus hochwertigem Darjeeling zubereitet worden ist (siehe dazu den Tee der Woche).

Und selbstverständlich darf bei einem Auslese-Earl Grey das charakteristische zitrusartige Bergamotte-Aroma nicht aus dem Laboratorium stammen. Angeblich, so raunt man sich in der Teebranche zu, gibt es immer noch Händler, die ihren Earl Grey wie in vergangenen Zeiten mit etwas Leinöl anhübschen. Das färbt selbst überalterte und bräunlich oder fleckig gewordene Teeblätter pechschwarz, als habe man sie glänzend lackiert. Das einzig wahre Parfum für die Wandlung von Tee in Earl Grey ist der Duft und die Würze der Bergamotte. Aus den Schalen dieser birnenförmigen, goldgelben Zitrusfrucht wird der begehrte herbwürzige Extrakt gewonnen. Zu Hause ist die Bergamotte vor allem im süditalienischen Kalabrien. Ein solcherart besprühter, ja diskret marinierter Tee ist als Earl Grey ein beliebter Klassiker und zudem ein veritabler Partner bei Tisch zu würzigen Speisen wie auch jenen der asiatischen Küche.

Die Nachfahren des Charles Grey, Earl of Falladon (1764-1845), einem englischen Politiker, dem die Kreation angeblich von einem chinesischen Mandarin als ein bis dato geheim gehaltenes Rezept als Präsent zugeeignet worden ist, trinken ihren Earl Grey-Tee übrigens ohne die Zugabe von Zitrone, selten mit Milch, doch gerne mit etwas Kandis. Einer anderen Version zufolge ist der Tee durch Zufall entstanden: Auf dem Schiffstransport von China nach Europa lagerten neben Teeballen auch Fässer mit Bergamotte-Öl, von dem bei hohem Seegang einiges überschwabbend in den Tee floß und den parfümierte. Sir Grey soll das Malheur als köstlich eingestuft, den Tee vor der Vernichtung bewahrt und somit für einen neuen Typus gesorgt haben. Vom sechsten Earl heißt es übrigens, er nutze den Tee genußbringend in der Küche. Tatsächlich bereichert das intensiv herbwürzige und zugleich auf berückende Weise ebenso exotische wie finessige Aroma besonders gut Saucen zu Geflügel wie zu Meeresfischen. Delikat schmeckt ein aus Earl Grey zubereitetes Sorbet, würzige Klasse erhält ein Zimtkuchen mit einer Glasur aus Earl Grey-Tee.

Beim Einkauf schützt ein seriöser Händler vor Enttäuschungen. Es empfiehlt sich, nicht gleich große Mengen zu ordern, sondern kleinere Portionen unterschiedlicher Sorten. Die probiert man dann in Muße aus und entscheidet, welche nachgekauft werden. Für jeden Anlaß, für jede Stimmung lässt sich ein spezieller Tee aufbrühen. Es gibt Frühstückstees und Abendtees. Der eine paßt zu Sonnenstunden, ein anderer zu Kälte. Ein Earl Grey ist wie gemacht für die süße Melancholie regnerischer oder nebelverhangener Apriltage. Die Kunst, für jede Stimmung den rechten Tee auszusuchen, ist ja das schöne Abenteuer, das man Teekultur nennt.